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Millionenstadt im Untergrund

Sie leben mit Millionen Artgenossen auf engem Raum, betreiben Landwirtschaft und biochemische Industrie in perfekter Arbeitsteilung: die Blattschneiderameisen.

Die Straße im brasilianischen Urwald ist in tadellosem Zustand. Kein Zweig liegt auf ihr. Wie auch? Sie wird ja jeden Tag gereinigt. Auf der handbreiten Mini- Autobahn strömen Hunderttausende Blattschneiderameisen zurück zum Nest. Sie schleppen Blattstücke mit sich, auf denen winzige Pygmäen-Ameisen aus der gleichen Kolonie sitzen. Sie sind die Luftabwehr gegen Buckelfliegen, die sich auf die Blattträgerinnen stürzen wollen, um Eier dort abzulegen: in die Nähe des Nackens, von wo die Larven dann in den Ameisenkörper eindringen.

Der Weg führt die Karawane mehr als 100 Meter durch den Wald und endet unvermittelt vor den Toren einer Millionenstadt. Unzählige Blattschneiderameisen der Gattung Atta tummeln sich dort im Schatten eines zwei Meter hohen säulenförmigen Doms aus locker aufgeworfener Erde. Arbeiter übergeben am Eingang die frische Ernte an kleinere Nestgenossen, die sie in unterirdisch angelegte Gärten bringen, um sie dort als Dünger für Pilzkulturen zu verwenden. Gleich zeitig sind andere Ameisen mit dem Bau eines Lüftungsschachts beschäftigt, während Soldaten, die ihre Kollegen aus der Arbeiterkaste an Körpergröße um das Achtfache übertreffen, Wache halten und das Nest vor Eindringlingen schützen.

Urbane Lebensweise, Landwirtschaft und perfekte Arbeitsteilung im Stil einer hoch entwickelten Gesellschaft: Erst langsam erschließen sich Wissenschaftlern die faszinierenden Sozialstrukturen dieser tropischen Ameisen, die von den Forschern als „Superorganismen“ bezeichnet werden. Um die Megapolis architektur der Blattschneiderameisen sichtbar zu machen, entwickelte ein Team um den brasilianischen Wissenschaftler Luiz Forti ein Verfahren für einen Abguss des Nestinneren. Eine Mischung aus acht Kubikmetern Wasser und über sechs Tonnen Zement wurde in den Eingang geschüttet. Was so sichtbar gemacht werden konnte, versetzte die Wissenschaftler in Staunen. Ihnen offenbarte sich ein auf über 67 Quadratmeter verzweigtes Nest, das aus 1920 Kammern bestand, von denen 238 mit Pilzgärten besetzt waren. Sie fanden ein riesiges unterirdisches System aus horizontal und vertikal angelegten Tunneln und Kanälen, das bis in acht Meter Tiefe reichte. Die lockere Erde, die von den Ameisen beim Bau ihres Nests an die Oberfläche transportiert und dort ab – gelagert worden war, wog um die 40 Tonnen. Bis zu acht Millionen Ameisen leben in solchen Nestern.

Entscheidend für die Ernährung solcher Riesenvölker ist eine Symbiose mit verschiedenen Pilzen, die vor etwa 50 bis 60 Millionen Jahren begann. Kurz gesagt, hegen und pflegen die Tiere Pilzkulturen im Innern ihrer Nester und ernähren sich dann von ihnen. Den Übergang vom Dasein als Jäger und Sammler hin zur Landwirtschaft haben neben den Blattschneiderameisen auch andere soziale Insekten wie zum Beispiel einige Termitenarten vollzogen. Blattschneiderameisen der Gattung Atta und Acromyrmex betreiben den Ackerbau aber derart fortschrittlich, dass sie etwas erreichten, was der Insektenforscher Bert Hölldobler „ökologische Dominanz“ nennt, eine offensichtliche Beherrschung der Umwelt.

Während die meisten der in Süd- und Mittelamerika beheimateten 230 pilzzüchtenden Ameisenarten verrottete Blattstücke und totes organisches Material als Düngemittel verwenden, sind 45 Arten, darunter die Atta und Acromyrmex, vor etwa zehn Millionen Jahren dazu übergegangen, dem Pilz frische Blätter zu kredenzen. Dadurch erschlossen sich Pilz und Ameisen eine ungleich höhere Nährstoffdichte, was deren Kolonien im Zuge eines evolutionären Schubs auf mehrere Millionen Individuen anwachsen ließ. „Dieser Entwicklungssprung ist durchaus mit dem des Menschen vergleichbar, als er nach Bändigung des Feuers anfing, Nahrung zu garen und sich damit eine viel größere Bandbreite an Vitaminen und Mineralien zugänglich machte“, sagt der Biologe Morten Schiøtt vom Zentrum für Sozialevolution der Universität Kopenhagen.

Schiøtt hat gemeinsam mit seinem Kollegen Henrik De Fine Licht einige Teile der komplexen chemischen Prozesse entschlüsselt, die bei der Verfütterung von frischem Blattwerk an den Pilz stattfinden: Der Pilz wächst wie Brotschimmel auf dem Substrat aus Blattresten, das von Röhren durchzogen ist und in seiner Struktur einem Badeschwamm ähnelt. Eigentlich wären die von den Ameisen angeschleppten Blattstücke ungenießbar für den Pilz: Vor allem die in den Blättern enthaltenen und für die Abwehr von Fressfeinden zuständigen Phenole würden ihn schädigen und schließlich zugrunde gehen lassen. Wären da nicht Enzyme, die der Pilz sogar selbst in sich trägt, leider nur nicht dort, wo er sie braucht. Die enzymreichen Pilzzellen finden sich nämlich in den Spitzen der Hyphen, fadenförmigen Zellen, die im Innern des Substrats wachsen.

Die Ameisen gelangen nun durch die Röhrengänge ins Innere des Substrats, fressen diese Zellen, nehmen so das Enzym in sich auf und scheiden es dann auf dem frisch geschnittenen Blattmaterial an der Oberfläche wieder aus. Auf diese Weise machen sie die Blätter für den Pilz genießbar.

Perfektes Abfallmanagement
Ein faszinierender Prozess, den die Forscher mit Bioreaktoren vergleichen, in denen der Mensch mithilfe von Enzymen organisches Material zersetzt und damit beispielsweise Ethanol produziert. Für das ausgezehrte und vom Pilz zurückgelassene Substrat bauen die meisten Atta-Arten übrigens spezielle Abfallkammern, die in einem Nest mit fortwährender Dauer jedoch ein zunehmendes Volumen einnehmen. Die Atta colombica sind deshalb dazu übergegangen, das Material außerhalb des Nestes zu entsorgen. Abfallmanagement beherrschen die Blattschneiderameisen also auch.

Text: Elmar Jung, Bilfinger Magazin 2/2013 

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