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Die Macht des Gebens

Wer an andere denkt, macht eher Karriere. Mit diesem Befund sorgt der junge Organisationspsychologe Adam Grant für Aufsehen.

Revolution im Haifischbecken Arbeitswelt! Fast unbemerkt lief der Umbruch ab, nun tauchen die ersten Beweise auf. Die Haie schaffen es nicht mehr ganz nach oben. Das ist eine von mehreren Erkenntnissen, mit denen ein junger Organisationspsychologe aus den USA schnell bekannt geworden ist.

Geben und Nehmen: Erfolgreich sein zum Vorteil aller, so heißt sein Buch, das vor wenigen Wochen im englischsprachigen Raum veröffentlicht wurde. In den Medien sorgte es für Aufsehen und in der Fachwelt für Anerkennung. Der Autor Adam Grant, 32, ausgebildet an der Universität Harvard, ist der jüngste Professor an der Wharton School, einer renommierten Wirtschaftsfakultät der University of Pennsylvania. Die Business Week zählt ihn zu den Top 40 der Wirtschaftswissenschaftler unter 40. Mehr als sieben Jahre lang hat er alle Hinweise auf den Wandel in der Arbeitswelt gesammelt, gebündelt, ausgewertet. Was er herausgefunden hat, könnte unsere Vorstellung von Erfolg und Karriere auf den Kopf stellen.

Drei Schubladen. Mehr braucht Grant nicht, um das Verhalten aller Berufstätigen zu erfassen. Er teilt sie in Nehmende (Taker), Vergleichende (Matcher) und Gebende (Giver) ein. Wie sich solches Verhalten im Beruf auf die Karriere auswirkt, untersuchen Wissenschaftler seit Langem mit ähnlichen Typologien. Vor allem beim Gebenden scheint die Gefahr groß zu sein, dass er ausgenutzt wird – und in der Hierarchie auf der Strecke bleibt. Und tatsächlich zeigen Studien quer durch alle Berufsfelder: Ganz unten auf der Karriereleiter stehen überwiegend Gebende. In einem breiten Mittelfeld sind der Nehmende und der Vergleichende relativ gleichmäßig verteilt. Die Spitze hingegen wird wieder von Gebenden dominiert.

Ausgerechnet derjenige, der vorwiegend an andere denkt, steigt offenbar am ehesten auf. Wie ist das möglich?

Im Jahr 1995 bekommt der Informatikstudent Adam Rifkin, der eine Internetseite der Band Green Day betreut, eine E-Mail von einem Graham Spencer, ebenfalls Student, der ihn bittet, einige andere Punk-Rock-Bands auf der Website zu verlinken. Wäre Rifkin ein Vergleichender, hätte er sich die Arbeit nicht gemacht, schließlich bringt der Gefallen ihm zunächst nichts, er kennt Spencer nicht einmal; als Nehmender hätte er die Aufforderung ignoriert. Aber Rifkin, ein Gebender, veröffentlicht die vorgeschlagenen Links auf seiner Seite. Fünf Jahre später, Spencer ist mit einer Internetfirma zum Millionär geworden, schickt Rifkin ihm eine E-Mail. Der einstige Informatikstudent will ein Unternehmen gründen und braucht einen Investor. Spencer vermittelt Rifkin an einen Bekannten, der das Geld zur Verfügung stellt.

Diese Gegebenheit, die Grant beschreibt, mag aussehen wie ein glücklicher Zufall. So etwas kommt – das zeigen Studien – bei Gebenden jedoch ständig vor. Sie versuchen immer zu helfen, auch wenn daraus kein unmittelbarer Nutzen für sie entsteht. Mit der Zeit hat das zur Folge, dass sie ein großes Netzwerk an Menschen haben, die sich mit ihnen verbunden fühlen. Viele dieser Menschen haben andere Interessen, Hintergründe und Berufe und gewähren dadurch Zugang zu anderen Ressourcen und Sichtweisen. Die meisten der Verbindungen sind zwar eher locker, doch „während enge Kontakte verpflichten, bauen lose Kontakte die Brücken“, schreibt Adam Grant. Er verweist auf eine Studie des Soziologen Mark Granovetter, der Berufstätige gefragt hat, wie sie von ihrer Stelle erfahren haben: 17 Prozent durch gute Bekannte, 28 Prozent durch lose Kontakte.

Die technischen Möglichkeiten, die Aufbau und Pflege von Netzwerken erleichtern – das sind laut Grant die Hauptgründe dafür, warum die Gebenden gerade heute erfolgreicher werden. Denn die Netzwerke werden nicht nur verzweigter, sondern auch transparenter. Durch Internetseiten wie Facebook und LinkedIn „spricht sich auch schneller herum, wer eher Gebender und wer eher Nehmender ist“, sagt Nicki Marquardt, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Hochschule Rhein-Waal. Die Nehmenden können ihre Kontakte seltener „verschleißen“, ohne dass andere es mitbekommen.

Aber was nützt ein guter Ruf, wenn man nicht im richtigen Moment seine Ellenbogen ausfahren kann? Obwohl Grant seine Thesen wissenschaftlich belegt, schätzt er die Gebenden so sehr, dass er Gefahr läuft, sie zu überschätzen. Doch Grant gibt auch zu: Wer immer jedem gerecht werden will, bevor er von der Dankbarkeit profitieren kann, ist womöglich schnell am Ende seiner Kräfte.

Hier liegt der Unterschied zwischen erfolgreich Gebenden und jenen, die auf den unteren Sprossen der Karriereleiter stehen bleiben: Giver, die Spitzenpositionen erreichen, geben weniger oder gar nichts, wenn sie sonst ihre eigenen Aufgaben nicht mehr bewältigen können. Zum Selbstschutz werden sie vorübergehend zu Ausgeglichenen oder sogar zu Nehmenden. Grant umschreibt das diplomatisch: „Eigeninteresse und Fremdinteresse sind keine Gegensätze, sondern zwei völlig unabhängige Faktoren.“ Das Geheimnis der erfolgreichen Gebenden liege in der Kombination: Sie verfolgten sowohl das Fremdinteresse als auch das Eigeninteresse.

Neben ihrer Art zu netzwerken schreibt Grant den Gebenden drei weitere Erfolgsfaktoren zu, die zum großen Teil auf ihrer Empathie beruhen. Erstens: Die Zusammenarbeit mit Gebenden sei leichter als mit anderen. Gebende versetzen sich in die Lage des Gegenübers, weil ihnen sein Wohl wichtig ist. Sie denken an alle, das macht den Umgang und die Geschäftsbeziehung mit ihnen angenehm.

Der zweite Erfolgsfaktor liegt laut Grant in der Art, wie Gebende verhandeln. Während die Nehmenden besonders selbstsicher auftreten und versuchen, möglichst viele ihrer Interessen durchzudrücken, sprechen Gebende von vornherein auch eigene Problemfelder an. Sie wollen ein Ergebnis, das alle zufriedenstellt. Auf den ersten Blick schwächt das ihre Verhandlungsposition, aber es steigert ihren Ruf. Noch während der Verhandlung bekommt der andere Respekt: Da ist jemand ehrlich mit mir. Studien belegen, dass Gebende bei Verhandlungen damit ähnlich gute Ergebnisse erzielen wie Vergleichende und Nehmende. Und ihre Geschäftspartner bleiben ihnen über eine längere Zeit erhalten.

Fast alle Ergebnisse, die Grant in seinem Buch zusammenträgt, sind unter Psychologen bereits bekannt. Auch die Einteilung in Giver, Taker und Matcher ist nicht revolutionär. „Geben oder Nehmen, Kooperation oder Dominanz, die verschiedenen Konzepte werden im Grunde schon seit der Steinzeit erprobt, ein ganz altes Menschheitsthema“, sagt der Psychologieprofessor Nicki Marquardt.

Grants neue Leistung besteht in der Integration und Zusammenführung der vielen Einzelergebnisse zu einem griffigen, neuen Konzept – das die Realität nicht mehr nur prognostiziert, sondern tatsächlich beschreibt. Während deutsche Unternehmen bislang kaum Anstrengungen machen, Gebende zu identifizieren und zu fördern, haben amerikanische Firmen ihren Wert seit Langem erkannt. „In den USA fördert man die Gebenden-Attitüde schon während der Schule und des Studiums“, sagt Oliver Sträter, Arbeits- und Organisationspsychologe an der Universität Kassel. Auch Unternehmen würden ihnen inzwischen beim Aufstieg helfen. Denn für die Führung scheinen Gebende besonders geeignet zu sein.

Ein Experiment des Harvard-Psychologen Robert Rosenthal aus dem Jahr 1966 konnte das zeigen. Damals erklärte Rosenthal Lehrern, welche 20 Prozent ihrer Schüler Tests zufolge besonders begabt seien. Ein Jahr später war der Intelligenzquotient der Begabten um zwölf Punkte gestiegen, bei allen anderen nur um acht. Auch zwei Jahre später waren die ausgewählten Schüler besser als die anderen. Doch mit außerordentlicher Begabung hatte das nichts zu tun: Die Schüler waren zufällig ausgewählt, wie Rosenthal später bekannt gab. Beim Ergebnis seines Experiments handelte es sich um eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die Lehrer glaubten daran, dass manche Schüler besser waren als andere – und hatten sie damit besser gemacht.

Was Rosenthal den Lehrern durch geschickte Täuschung gewissermaßen eingepflanzt hat, bringen Gebende schon mit. So zumindest lautet der dritte Erfolgsfaktor, den Grant bei ihnen identifiziert hat. „Gebende warten nicht auf Zeichen von Potenzial. Sie vertrauen von vornherein in die Fähigkeiten anderer. Gebende neigen dazu, Potenzial in jedem zu sehen“, schreibt Grant. Es werde also allein schon durch diesen Glauben befördert. Die Nehmenden hingegen setzen von ihrer Natur aus wenig Vertrauen in andere, schließlich kämpft in ihrer Vorstellung von der Arbeitswelt jeder für sich selbst. Vergleichende sind offener und gewillt, das Potenzial der Mitarbeiter zu fördern. Aber sie wollen erst sichergehen, dass ihre Unterstützung sich auszahlt – und nicht immer ist das Potenzial gleich ersichtlich.

Was Gebende hoffnungsfroh stimmt, ruht allerdings auf einem sensiblen Gleichgewicht. Was ist, wenn ein Gebender in seinem grenzenlosen Optimismus und Glauben an den anderen an einem Mitarbeiter zu lang festhält, obwohl der völlig überfordert ist und die Abläufe bremst? Wenn man bei einer Verhandlung, die niemals für alle zufriedenstellend sein kann, aus Zurückhaltung der eigenen Firma schadet? Es lauern Fallen im vermeintlich vorteilhaften Verhalten der Gebenden. Um sie zu vermeiden, brauchen Giver neben dem erwähnten Eigeninteresse auch die Fähigkeit, um Hilfe zu fragen. Dann sind sie erfolgreich.

Die Gebenden zu rein selbstlosen Menschen hochzujubeln wäre daher eine Verklärung. „Selbst die Menschen, die im Beruf vermeintlich ohne Gegenleistung viel geben, handeln nicht ohne Hintergedanken“, bestätigt Sonja Sackmann, Arbeits- und Organisationspsychologin an der Universität der Bundeswehr in München. Oft gewähre der Gebende nur einen Vorschuss an Vertrauen – der sich bewähren müsse und dann für eine weitere Geschäftsbeziehung genutzt werde.

Das scheint zu funktionieren: Am Ende steht er überdurchschnittlich häufig ganz oben.

Wer nun selbst ein Gebender werden möchte, sollte laut Grant allerdings auf seine Motive achten: „Wenn Sie nur ein Gebender werden, um Ihre eigenen Ziele zu erreichen, wird es wahrscheinlich nicht funktionieren.“

DIE ZEIT  – online Nº 29/2013 – von Christian Heinrich 

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